2 Soziales Leben, 2.2 Soziale Kognition


2.2.1 Theory of mind / Empathie

Unter dem Begriff „theory of mind“ (abgekürzt ToM) wird die Fähigkeit verstanden, sich und anderen Personen Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Erwartungen, Absichten, Überzeugungen und Meinungen zuzuschreiben und dieses Wissen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sinnvoll zu nutzen. ToM bezieht sich somit auf Gedanken und Gefühle und ist umfassender zu verstehen als Begriffe wie „Empathie“ oder „Mitgefühl“. ToM ist keine Fertigkeit, die man entweder hat oder nicht, es handelt sich vielmehr um die graduell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit,
  • sich in andere Menschen „hineinversetzen“ zu können
  • andere als eigenständig denkende und fühlende Individuen wahrzunehmen
  • deren Perspektive (gedanklich) einzunehmen
  • eigene Gedanken und Gefühle davon zu unterscheiden
  • eigene und „fremde“ Gedanken und Gefühle zu vergleichen
  • Täuschungen zu verstehen
  • Absichten anderer in sein eigenes Denken und Handeln einzubeziehen
ToM-Fähigkeiten werden von neurotypischen Kindern im Alter von drei bis vier Jahren erworben. Bei neurotypischen Menschen fließen ToM-Fähigkeiten in der Regel intuitiv und unbewusst in das Denken und Handeln ein.


Menschen mit Autismus haben häufig Probleme bei der Erkennung und Interpretation von Gefühlen, Denkinhalten und Absichten anderer, die entweder nicht wahrgenommen oder mühsam erschlossen werden müssen. Dadurch entstehen beispielsweise folgende Problembereiche:
  • Verhalten anderer kann nicht vorhergesagt werden
  • Absichten anderer werden nicht oder unvollständig erkannt
  • Gefühle anderer werden nur eingeschränkt wahrgenommen
  • Die Wirkung eigenen Handelns auf andere wird nicht oder nur unzureichend bedacht
  • Gesprächen wird der Kenntnisstand anderer Personen nicht angemessen berücksichtigt
  • Das Interesse anderer an gewählten Gesprächsthemen wird falsch eingeschätzt
  • Notlügen fallen schwer, „verletzende Wahrheiten“ werden nicht verschwiegen
  • häufige „Fettnäpfchen“
  • Täuschungen werden nicht oder nur schwer durchschaut

2.2.2 Einschätzen von Reaktionen und Absichten


Matthias Brien: Ich koche für dich; Books on Demand, 2011 (…)
hey, Matthias…magst du Topinambur?
was ?
kuck mal, ganz frisch…wollen wir die mitnehmen?
ja, das weiß ich jetzt nicht.
wenn du die nicht magst, sag es gleich…ich kaufe nichts, was ich hinterher wegschmeißen muss. also sag es gleich.
ich weiß das jetzt nicht so recht, ob ich die mag. habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. soll ich das jetzt tun?
nein, habe dich auch so verstanden. wie sieht es mit Möhren aus?
geh mit mir doch jetzt nicht das ganze Angebot durch. du wolltest ja einkaufen und dann tue das bitte.
ich habe dich bloß was gefragt. okay, dann nehme ich die Topinambur, aber wehe, du mäkelst später daran rum.
das werde ich bestimmt nicht tun, jedenfalls nicht an der Tatsache, dass du Topinambur gekauft hast.
(S. 18)


Menschen einschätzen können

Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Im Zug: Da ich nichts, was für andere von Wert gewesen wäre, in meinem Rucksack hatte, stellte ich ihn sorglos neben die Tür. Ich muss kurz eingenickt sein…Als der Zug gegen 4 Uhr die Grenze nach Dänemark erreichte, war der Rucksack jedenfalls weg. Ich verstand erst gar nicht, dass er gestohlen worden war, hatte ich doch Geld, Fahrkarte, Pass und Schlüssel extra in einem Brustbeutel…Wer würde so etwas stehlen. ...Christopher erklärte mir, das sei typisch gewesen, dass ich gedacht hatte, den Rucksack stiehlt keiner, weil ich die Wertsachen doch alle am Körper trug. Aber dass das ein potentieller Dieb nicht wissen konnte, daran hatte ich nicht gedacht! So gesehen, ist mir also der Rucksack gestohlen worden, weil Susanne einen Mangel an Empathie hat. (S.137/138)


In andere hineinversetzen

Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:
Zu fühlen, was mein Gegenüber gerade fühlt, zu spüren, wie es dem Menschen, mit dem ich gerade kommuniziere, geht, in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, was er gerade denkt, um dann entsprechende Rückschlüsse auf sein Verhalten ziehen zu können, das sind Dinge, die mir zu einem großen Teil verschlossen und unbegreiflich sind.
Daraus resultieren immer wieder Missverständnisse in der Kommunikation und im Umgang mit sozialen Kontakten, die mir in der unmittelbaren Situation häufig selber gar nicht bewusst sind. Aber auch, wenn ich darauf aufmerksam gemacht werde, verstehe ich nicht, was in dem Augenblick falsch gelaufen ist und dass ich möglicherweise unangemessen gehandelt oder reagiert habe.
„Versuche doch einfach einmal, dich in die Lage des anderen hineinzuversetzen.“ Immer wieder fällt in dem Zusammenhang dieser Satz. Als wenn das so einfach wäre. Was anderen diesbezüglich selbstverständlich erscheint, nämlich die Kommunikation jenseits des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, bleibt für mich erst einmal rätselhaft. Ich kann in den Gesichtern anderer nicht erkennen, wie sie sich gerade fühlen. Ich vermag zwar ein Lachen der Freude oder dem Glücklichsein zuzuordnen oder ein Weinen der Trauer oder dem Traurigsein, aber der Grund dafür erschließt sich mir in vielen Fällen nicht. Dadurch kann es zu Fehlreaktionen oder sogar zum Ausbleiben einer Reaktion von meiner Seite und zu Verständnisproblemen in der Kommunikation und im weiteren Handlungsablauf kommen.


2.2.3 Unwahrheit und Ehrlichkeit



2.2.4 Durchschauen von Täuschungen