3 Kommunikation, 3.1 Sprache verstehen



3.1.1 Verbale Bedeutung verstehen



Wörter ohne Bilder



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Die Erwähnung von Dingen, für die ich keine Bilder hatte, fand in meinem Kopf keinen Landeplatz, sondern flog davon, um sich anderswo niederzulassen. Möglicherweise landeten die Worte, aber dann nur als Wörter – mit interessanter Struktur oder besonderem Geschmack. Die Wörter konnten auch eine spannende Farbe haben oder angenehme Laute enthalten, aber wenn sie kein Bild erzeugten, bedeuteten sie nichts. (S.26)





Wortgeräusche



Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse, Goldmann Verlag: Ich fragte den Dachs (Vater) nach seinem Beruf. Der Dachs antwortete. Ich hörte Geräusch. Ich versuchte das Geräusch über die Lippen zu bringen. Einige Male schien es zu klappen. Dann erstarb das Geräusch in meinem Kopf. Das Wort war ein Lärmchen. Ich konnte es kaum hören. Nie war ich mir sicher, ob ich es wirklich gehört hatte. Für eine kurze Zeit geisterte das Lärmchen durch mein Bewusstsein, ehe es verschwand wie all die anderen Wörter, die sich in meinem Geist nicht heimisch fühlten. (S. 81/82)





3.1.2 Mangelndes Verständnis für Betonung



T. Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger Syndrom

Ich habe nicht gesagt, dass sie mein Geld gestohlen hat (aber jemand anderes hat es gesagt).
Ich habe
nicht gesagt, dass sie mein Geld gestohlen hat (ich habe es bestimmt nicht gesagt).
Ich habe nicht
gesagt, dass sie mein Geld gestohlen hat (aber ich habe es zu verstehen gegeben).
Ich habe nicht gesagt, dass
sie mein Geld gestohlen hat (aber irgend jemand hat es gestohlen).
Ich habe nicht gesagt, dass sie mein Geld
gestohlen hat (aber sie hat irgend etwas damit gemacht).
Ich habe nicht gesagt, dass sie
mein Geld gestohlen hat (sie hat das von jemand anderem gestohlen).
Ich habe nicht gesagt, dass sie mein
Geld gestohlen hat (sie hat etwas anderes genommen)



Es ergeben sich also sieben verschiedene Bedeutungen alleine dadurch, dass jeweils ein anderes Wort betont wird. S. 269



Für Menschen aus dem autistischen Spektrum ist es oft schwierig, einen Tonfall sinngemäß zu erfassen. So bleibt die eigentliche Aussage eines Satzes ihnen häufig verborgen.




3.1.3 Gesagtes wörtlich interpretieren



Redewendungen

Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) Aber ich glaube, es gibt auch einige Redewendungen, bei denen sich auch nicht-autistische Menschen nicht einig sind, was sie bedeuten. Dabei denke ich vor allem an „das passt wie die Faust aufs Auge“. Ich habe schon viele Leute gefragt, einige sagten mir, das hieße, es passt gut, andere sagten, es sei gemeint, es passt gar nicht. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, was denn nun stimmt. Da fragt man sich doch immer wieder, was eigentlich der Sinn von solchen Sprichwörtern und Redewendungen ist, wenn sie doch niemand versteht. Das will mir nicht in den Kopf hinein. Und auch das ist wohl eine Redensart, denn natürlich kann ja nichts einfach so „in den Kopf hinein“ gehen. S. 91





Bildhafte Interpretation

Dr. Christine Preißmann: Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger Syndrom, Kohlhammer Verlag: (....) Ich selbst habe mit Hilfe des Internets unzählige Sprichwörter und Redewendungen auswendig gelernt. Aber manchmal ist es bei zweideutigen Äußerungen dennoch schwer zu entscheiden, was nun genau gemeint ist, ob es sich um eine Redewendung handelt oder nicht. Eine meiner Kolleginnen in der Klinik, eine Psychologin, erklärte mir letzte Woche, sie könnte „in die Luft gehen“. Ich dachte, sie wollte mit mir über ihr Fernweh sprechen, und fragte sie, wohin sie gern fliegen würde. Dass sie sich über einen Patienten ärgerte, war mir entgangen. S.15





Unverständliche Redewendungen

Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Der Lateinlehrer brüllte, er würde seine „Hausaufgabenkeule“ schwingen, wenn wir nicht endlich ruhig seien. Ich verstand damals nicht, wie er das meinte; denn ich sah nie, dass er eine Keule dabei hatte. Aber ich versuchte einmal, ein Bild einer solchen Keule zu zeichnen – und bekam in Kunst sogar eine „2“ für diese „originelle Karikatur“ des Lateinlehrers.

Ein anderes Beispiel für Susannes wörtliches Verständnis von Sprüchen war „ins Fettnäpfchen treten“, was ich laut Aussagen der anderen oft tat, ohne es zu merken. Das einzige Fettnäpfchen, das ich je gesehen hatte, war das kleine Döschen mit Pflegefett für meine Blockflöte, das in dem Flötenkasten in Schaumstoff eingebettet lag. Ich dachte immer, was reden die Leute für einen Blödsinn. S.57





Wörtliche Interpretation



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Zu Fragen verhielt ich mich ganz konkret. „Kannst du … ?“ beantwortete ich mit einem „ja“ und das bedeutete „ja, ich kann …“ Dass es aber auch „ich will …“ oder „ich werde …“ bedeuten konnte, war mir ganz fremd. Wenn ich „ich kann“ sagte, dann meinte ich genau das und sonst nichts. Daher war der Effekt meines „ja“ auf die Frage „kannst du mal dein Zimmer aufräumen?“ nicht der gewünschte. Ich begriff überhaupt nicht, warum sie sich in diesem Fall so sehr über mich aufregten. (S.96)







Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:




Die Relevanz deiner Worte



Sprich zu mir nur mit wahren Worten
wenn ich dir vertrauen soll.
Nur an ihnen kann ich mich festhalten
und deine Gedanken und dein Verhalten verstehen
nicht an dem Ungesagten welches in dir bleibt.
Wie soll ich zwischen den Zeilen lesen können
wenn diese leer bleiben für mich?

Ein Ja heißt für mich ja
nicht möglicherweise oder vielleicht.
Ungewissheit wird nicht gewisser
durch ein falsches Wort
auch, wenn es gut gemeint ist.
Ich verlasse mich darauf
weil es für mich verbindlich ist
und begreife nicht
wenn aus einem Ja
Schritt für Schritt ein Nein wird.

Kommt dein Versprechen
von „Ich verspreche dir etwas“
oder von „Ich habe mich versprochen“?
Ich möchte es wissen
ich muss es wissen
weil es mir nur Sicherheit gibt
wenn ich mich auf seine Wortwörtlichkeit
verlassen kann.

Ich begreife nicht
wenn du etwas anderes sagst, als du meinst
oder etwas anderes meinst, als du sagst.
Und jedes Schweigen
birgt neue Ungewissheit in sich
weil die Antwort nur aufgeschoben wird
und ich immer und immer wieder
fragen muss.





Ironie oder Lüge

Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Was ist der Unterschied zwischen Ironie und Lüge? Lügen ist, unwahre Worte zu sagen – aber ein Witz, der stimmt ja auch nicht. Dennoch gelten Lüge und Witz als völlig verschiedene Begriffe. Wenn jemand etwas ironisch sagt, dann ist der Satz gerade andersherum gemeint als er sich anhört! Wie soll man das herausfinden? Die anderen merken das sofort, wenn ein Satz andersherum gemeint ist. S. 52





3.1.4 Zwischen den Zeilen lesen



Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen: (...) Es kommt immer wieder zu Missverständnissen, die ich nur schwer begreifen kann oder ganz falsch deute, weil ich nur die Sprache zur Verfügung habe, die zu verstehen schon schwer genug ist, weil vieles nicht so gesagt wird, wie es gemeint ist.

Alles, was sich jenseits der Worte abspielt, ist für mich wie eine Fremdsprache, die ich nicht beherrsche und für die ich einen Dolmetscher brauche.




3.1.5 Umgang mit unpräzisen Aussagen



Bandenchef: (...) Ich bin seit fast 20 Jahren mit meinem Mann zusammen. Natürlich gibt es auch zwischen uns oft Kommunikationsprobleme. Das größte Problem ist aber wohl nicht das Gespräch, sondern das Hinauszögern von Gesprächen. Wichtig sind immer ganz klare Absprachen und man muss sich bewusst machen, dass der Partner eben nicht weiß, was man will, wenn man es ihm nicht sagt.
Witzigerweise hat mein Partner durch mich gelernt, sich klar auszudrücken. Manchmal nervt er mich inzwischen schon damit. Wenn ich ihn frage, ob er mir die Butter geben kann. Muss ich mit einem "ja" rechnen. Auch meine Jungs neigen dazu, Redewendungen mit Absicht wörtlich zu nehmen. Das führt oft zu Gelächter. Überhaupt ist Humor die beste Lösung bei Kommunikationsproblemen.
Wir haben auch oft ausländische Gäste, deren Sprache wir nicht sprechen. Solcher Umgang schult ungemein die klare Kommunikation, weil man genau überlegen muss, wie man sich ausdrückt, wenn der Andere nicht so gut Deutsch spricht. So kann er wegen eines anderen Kulturkreises mitunter Redewendungen nicht nachvollziehen. Da fühlt man sich selber auch gleich viel weniger "autistisch".
Nicht aufgeben, immer nachfragen!



3.1.6 Zeit und Verständnis



Zeitverzögert verstehen

Dianas Aspergerseite: (...) Mit mehreren Personen kann es sehr gefährlich sein - ich kann niemanden mehr mental beobachten, es entgeht mir sehr viel, auf das ich mich konzentrieren müsste, aber aufgrund meiner Einkanal-Limitierung nicht konzentrieren kann. Der Energiepegel sinkt bei dieser Form rapide und rasch.

Die Zeitverzögerung zwischen akustischem und mentalem Hören kann dabei variieren von wenigen Centisekunden bis hin zu mehreren Sekunden. Schwankt ebenfalls mit der Energieaufwendung und der Energieabnahme. www.aspiana.de