5 Denken, 5.1 (schwache) zentrale Kohärenz


Einführung:



Zentrale Kohärenz beschreibt als Oberbegriff die Fähigkeit

gestaltmäßig wahrzunehmen

kontextbezogen wahrzunehmen und zu denken

einen „roten Faden“ zu finden

Zusammenhänge zu erkennen und Ideen sinnvoll zu verknüpfen



Die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz geht als allgemeines Erklärungsmodell für Autismus auf Uta Frith 1989 zurück. In dieser Theorie wird autistisches Erleben und Verhalten auf einen grundsätzlich anderen Wahrnehmungs- und Denkstil bzw. eine andere Art der Informationsverarbeitung zurückgeführt.



Autistischen Menschen gelingt es demzufolge nur eingeschränkt, ganzheitlich wahrzunehmen und Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Stattdessen haben sie eher Stärken bei der detailorientierten Erfassung und Verarbeitung von Informationen. Menschen mit neurotypischer Informationsverarbeitung können (im Idealfall) bereits bei der Wahrnehmung Objekte und Phänomene aller Art kategorisieren und je nach situativem Kontext flexibel und intuitiv einordnen. Dadurch gelingt es ihnen leicht, Zusammenhänge zu erkennen und Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse dem jeweiligen Kontext anzupassen.



Bei schwacher zentraler Kohärenz besteht eher die Tendenz zu einer gewissen „Kontextblindheit“ mit Schwierigkeiten, angemessen zu abstrahieren und Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Dafür werden Details und Verbindungen erkannt, die bei starker zentraler Kohärenz leicht übersehen oder vernachlässigt werden.

Auch ohne den Anspruch zu erheben, das gesamte Autismus-Phänomen mit der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz erklären zu wollen, finden sich in den Biographien autistischer Autoren zahlreiche Hinweise auf diesen „anderen kognitiven Stil“.







5.1.1 Gestalthaft wahrnehmen und denken



Detailwahrnehmung



Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:



Manchmal sehe ich die Welt durch einen Fingerkreis


Was machst du da?“

Ich schaue mir die Blumen an.

Nein, was du mit den Fingern vor deinem Gesicht machst?“

Ich schaue mir die Blumen an.

Präziser gesagt, schaue ich mir den Wegesrand durch einen Fingerkreis an, welchen ich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand geformt habe und vor mein rechtes Auge halte.

Ein Ring, der mir die Welt endlich macht.

Ein bisschen ist das wie fotografieren. Ich teile mir die Welt in kleine Ausschnitte.

Ausschnitte, die überschaubar sind. Ausschnitte, die meinen Blick begrenzen.

Aber das soll ein Geheimnis bleiben. Sie würden es vermutlich sowieso nicht verstehen.

Ich habe viele Geheimnisse.

Die Welt durch einen Fingerkreis zu sehen ist nur eines von vielen.

Durch den Fingerkreis kann ich Dinge sehen, die ich sonst nicht sehe.

Die kleinen Walderdbeeren zum Beispiel, die wir beim Wandern sammeln.

Durch den Fingerkreis entdecke ich sie in dem vielen Grün am Wegesrand sofort.

Wie bei einem Suchbild, wo es bestimmte Gegenstände zu finden gilt.

Darin bin ich sehr gut, weil mir jedes Detail eines Bildes sofort auffällt.

Aber nur, solange dieses überschaubar ist.

Sobald das Grün auf der rechten oder linken Seite des Wanderwegs ohne den Blick durch die beiden Finger zu viel wird, finde ich keine Erdbeere mehr.

Dann sehe ich – wie meine Mutter sagt – vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

Beim Wandern trifft das sogar zu.

Durch die beiden Finger betrachte ich meist nur den Stamm eines Baumes.

Die Gleichmäßigkeit seines Rindenmusters gefällt mir.

Gleichzeitig fällt mir auch jede Abweichung des Musters auf.

Oder ich schaue durch den Fingerkreis hinauf zu den Baumkronen und entdecke darin jeden Vogel und Zapfen oder die Stellen, an denen ein Ast oder Zweig abgeknickt ist.

In der Stadt kann ich auf diese Weise die Straßenschilder und Hausnummern erkennen und die Autokennzeichen schon von Weitem lesen.

Auch die Schaufensterauslagen betrachte ich mir oft durch den Fingerkreis.

Zumindest dann, wenn mich niemand dabei beobachtet.

Bei den Schaufenstern verhindern die beiden Finger vor dem rechten Auge zusätzlich, dass sich das Tageslicht zu sehr in dem Glas spiegelt und mich blendet. Meine Augen sind nämlich sehr lichtempfindlich. Bei zu grellem Licht halte ich mir die Hände vor die Augen oder kneife die Augen fest zu. Manchmal fragen mich Menschen dann, warum ich eine solche Grimasse schneide oder das Gesicht so merkwürdig verziehe, obwohl ich das gar nicht gemacht habe.

Es war in dem Moment nur zu viel Licht, das sich wie ein Messer in meine Augen gebohrt hat.

Da ich das Draußen überwiegend durch den Blick auf den Boden wahrnehme, hilft mir auch dort der Fingerkreis, Dinge, die am Straßenrand liegen, sofort zu entdecken, die ich ohne diese Begrenzung nicht sehen würde. Nur bei den Gehwegplatten brauche ich die Finger nicht.

Sie teilen den Bürgersteig automatisch in kleine, rechteckige Ausschnitte und machen diesen dadurch überschaubar, so dass mir jedes Detail darin auffällt.

So, wie ich die Unendlichkeit der Zeit durch das Zählen eingrenze, grenze ich die Unendlichkeit der Welt durch zwei Finger ein, die ich zu einem kleinen Kreis forme.

Oder die Unendlichkeit draußen vor der Tür durch die Begrenzung der Gehwegplatten.

Alles Geheimnisse, von denen niemand etwas wissen darf.

Denn ich will nicht, dass sie wieder sagen, ich sei verrückt, weil ich solche Dinge mache, die sonst niemand macht.

Ich bin nicht verrückt.

Ich sehe die Welt nur manchmal anders.





5.1.2 Kontextbezug









Wichtig und unwichtig



Dr. Christine Preißmann: Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger Syndrom, Kohlhammer Verlag: (....) „Ich…habe mich immer gefragt, was der Grund dafür sein könnte, dass ich mir keinen Film ansehen kann, bis heute nicht. In der Schule war dies ein großer Nachteil, denn vor allem in höheren Klassen wurde die Fähigkeit verlangt, den Inhalt und die Handlung zu beschreiben und zu analysieren, was mich hoffnungslos überforderte. Meine Klassenkameraden freuten sich auf die Filme, mir dagegen waren sie zuwider. Es war mir nicht möglich gewesen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. ich hätte problemlos beschreiben können, welche Tasse die Hauptperson benutzte, was sie zum Frühstück aß und an welcher Stelle das Buch, das sie las, ein Eselsohr hatte. Aber das war leider nicht gefragt. Gefragt waren zusammenfassende Analysen, die Beziehungen der Darsteller zueinander, ihre Ziele und Absichten, aber dies zu erkennen war mir nicht möglich gewesen.“ (S.19)





5.1.3 Abstrahieren



Allgemeine Rückschlüsse ziehen



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Auch war es für mich nicht selbstverständlich, dass etwas sich hinter oder unter etwas anderem befinden konnte. Wenn ich es sah, begriff ich es. Ich verband es aber ausschließlich mit dem, was ich eben in diesem Moment sah. Hatte ich einen Ball gesehen, der unter eine Kommode gerollt war, wusste ich, dass Bälle sich unter Kommoden befinden konnten. Ich verstand auch, dass der Ball dort lag, obwohl ich ihn nicht sah, und ich konnte soweit verallgemeinern, dass ich mir sagte, auch andere Bälle könnten von großen Möbeln verdeckt werden. Diese Erfahrungen konnte ich meinem Wissen über die Welt hinzufügen und in Zukunft auch anwenden. Aber sie sagten mir nichts davon, dass außer Bällen auch andere Gegenstände unter der Kommode liegen konnten, oder dass alles mögliche irgendwo hinter anderen Sachen landen und unsichtbar werden könnte. (S. 75)





Falsche Schlüsse ziehen



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Der Musiklehrer war ein kleiner dünner Mann mit Brille, etwas, das mich sehr verwunderte, weil es so nicht stimmen konnte. Um das System besser zu verstehen, nach dem die Welt funktionierte, hatte ich mir eine eigene Brillentheorie geschaffen. Diese Theorie lief darauf hinaus, dass alle Erwachsenen mit Brille entweder lang und dünn waren oder klein und dick. Aber nie klein und dünn. Das Aussehen meines Vaters und eines seiner Arbeitskollegen bildeten die Grundlage für diese Theorie. (…) Der Musiklehrer machte mir Angst, weil er eine ganz neue Sorte Mensch darstellte, die nicht in meine Erfahrungswelt passte. (S.116)





5.1.4 In Bildern denken



Detailfülle in Bildern



Werner Kelnhofer: Auf einem fremden Planeten: (...) Da ich vorwiegend in Bildern denke, habe ich sowieso immer das Problem, von den vielen Details, die so ein Bild beinhaltet, diejenigen herauszufiltern, die für die jeweilige Kommunikation wichtig sind. Viele Menschen kennen den Spruch: "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" - denken aber nicht an den Umkehrschluss, dass man auch mehr als tausend Worte braucht um ein Bild zu beschreiben. Wie frustrierend es ist, von all den Bildern, die ich während eines Gespräches im Kopf habe, immer nur einen winzig kleinen Teil mitteilen zu können, das können sich diese Menschen offenbar nicht vorstellen. www.as-tt.de





5.1.5 Stärken bei schwacher zentraler Kohärenz



  • Genauigkeit, Perfektionismus
  • Gute Beobachtungsgabe
  • Blick für Veränderungen
  • Gutes Gedächtnis für Einzelheiten
  • Ausdauer bei monotonen Aufgaben





Details erkennen



Nicole Schuster: Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, Weidler Buchverlag: (....) Niemand in der Familie findet so oft wie ich Münzen auf dem Bürgersteig oder vierblättrige Kleeblätter auf einer Wiese. Mein Blick für Veränderungen hat Leute schon beeindruckt, als ich noch ein kleines Kind war. Damals habe ich der Oma Freude gemacht, da ich ihr sofort sagen konnte, wenn sie etwas Neues anhatte. Für mich war das wie ein Spiel, ich merkte es ja so oder so und ohne jede Mühe. Die Oma fühlte sich indes geschmeichelt – wahrscheinlich dachte sie, dass ich mich für ihre Kleidung besonders interessieren würde. (S.24)