8.2.1 Überwindung des Autismus?
Matthias Brien, Autor des Buches: 'Das Asperger Syndrom im Beruf' schreibt zum Thema: In
dem Buch von Daniel Tammet: „Die Elf ist freundlich, die Fünf ist
laut“ lese ich auf Seite 11 den Satz: „Doch im Gegensatz zu den
auffälligen Symptomen und Verhaltensweisen, die er als Kind zeigte,
bestätigt sein heutiges sehr hohes Entwicklungsniveau, seine eigene
Feststellung, daß er zum Teil aus seinem Autismus „hinausgewachsen“
sei.“ Und auch in dem Buch von Nicole Schuster: „Schüler mit
Autismus-Spektrum-Störung“ lese ich auf Seite 9: „Mit diesem
Buch möchte ich aus meiner Sicht Antworten geben – aus der Sicht
einer jungen Frau, die ihren Autismus jetzt als weitgehend überwunden
betrachtet, ...“ Auch ich möchte mich dem anschließen und auch
von mir behaupten, daß ich meinem Autismus in einem gewissen Maß
entwachsen bin.
Wie
komme ich zu dieser Aussage, da mir doch bewusst sein sollte, daß
Autismus auch als eine erblich bedingte Störung definiert wird? Die
Annahme, daß Autismus eine genetische Disposition voraussetzt,
gehört zu dem Begründungsmodell einer summarischen
Betrachtungsweise verschiedener Symptome. Die meisten dieser Symptome
beziehen ihre Wirklichkeit aus der Beobachtung von Verhalten und
Reflexion darüber. Das, was da beobachtet wird, ist das Verhalten in
und auf eine spezifische Situation.
Vermutlich
haben sich in meinem Leben, nicht nur diese spezifischen Situationen,
sondern auch das Werkzeug, mit dem ich auf diese Situationen
reagiere, verändert. Somit sind alte Verhaltensmuster, die mit
Autismus assoziiert wurden, deutlich geringer geworden.
Beispiel:
als Jugendlicher gelang es mir nicht, mich einer Peergroup
anzuschließen und mich über Moped, Autos und Mädchen
auszutauschen. Als alter Mann brauche ich das heute nicht mehr. Das
heißt: die spezifischen Situationen, in denen mein Leben
stattfindet, haben sich geändert. Auch Überlegungen über die
Ausbildungs- und Berufswahl sind für mich heute nicht mehr relevant.
Meine Schwierigkeiten an der Uni werden sich nicht mehr wiederholen.
Man
kann mutmaßen, ob sich nicht auch für die beiden Autoren wie für
mich selbst spezifische Situationen wohltuend verändert haben, sodaß
mögliche alte Verhaltensweisen nicht mehr sichtbar werden. Man hat
vielleicht die Schmerzen der Jugend überwunden und sich gute
Kompensationsstrategien zugelegt. Ich lebe eine neutrale Position in
der Erwachsenenwelt, fern ab vom normalen Berufsleben und fern ab von
Familienfeiern, Vereinstreffen und natürlich auch immer noch fern ab
einer Peergroup. Alte und vielleicht typische autistische Verhalten
aus früheren Zeiten brauchen sich nicht zu wiederholen. Dazu fehlt
der Anlaß. Ein geregeltes finanzielles Auskommen, das unabhängig
von einem bestimmten vorab definierten Arbeitseinsatz gewährt wird,
kann bei vielen Autisten ein Erscheinungsbild möglich machen, das
kaum noch an Autismus erinnert. Das bestätigen auch meine
Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe, wo meist gerade die
Versorgungsprobleme besprochen werden. Ein gesättigter Löwe verhält
sich anders als üblicherweise ein hungriger Löwe.
Viele
Ereignisse verlieren mit der Zeit ihre Wichtigkeit und auch ihre
Gültigkeit. Das gilt natürlich auch für die vielen möglicherweise
traumatisch erlebten Enttäuschungen vieler Autisten. Hilfestellungen
werden oft als nicht ausreichend erlebt, was die Betroffene in
extreme existentielle Not und Angst führen kann. Besonders in
solchen Fällen, wo Sprache und Kommunikation stark beeinträchtigt
sind. Allein schon die Angst vor dem völlig Alleingelassensein,
einer Art „Horror vacui“ kann schon viele als typisch geltende
autistische Verhalten auslösen.
Solche
Erlebnisse aus der frühen bis späten Kindheit können sich
tatsächlich aus ganz unterschiedlichen Gründen „verwachsen“ und
im Alter kaum noch relevante Reaktionen hervorrufen. Ich kann mir
vorstellen, daß auch psychotherapeutische Interventionsmodelle hier
eine Hilfe sein können. Eine Stärkung des Charakters und ein gutes
Verständnis der intrapsychischen Kräfte spielen sicherlich ein
große Rolle in der Bewältigung des Alltags. Für am meisten
geeignet halte ich jedoch pharmakologische, motopädische und
verhaltenstherapeutische Maßnahmen, um grundsätzlich Auswirkungen
und nicht nur die der autistischen Störung zu lindern.
Kinder-
und Jugendtherapeuten legen in der Literatur, es sind meist die
Elternratgeber und Elternleitfäden zum Thema Autismus, den Fokus auf
kindliche Entwicklungschancen und messen Erfolge meist an einer
vergleichbaren Selbständigkeit mit anderen nicht beeinträchtigten
Kindern oder Jugendlichen. Das mag sicherlich der Erwartung der
Öffentlichkeit an Veränderung in bestimmten Zeitintervallen
entsprechen, macht für mich aber keinen Sinn, weil die Qualität der
Kompensationsstrategien in solchen Vergleichen nicht berücksichtigt
wird. Auch die mit dem Alter mehr oder weniger steigende
Lebenserfahrung ist erheblich an der Lebensführung beteiligt. Mir
sind jedoch noch keine Studien bekannt, in denen autistisches
Verhalten besonders der älteren Menschen untersucht wurden. Man kann
davon ausgehen, daß Symptome auf grund ihrer Ähnlichkeit zu anderen
Störungsbildern denen auch zugeordnet werden können und damit aus
der Gruppe autistischer Verhaltensmerkmale herausfallen. Depression
oder Sozialangst wären Beispiele dafür. Auch aufgrund dieser
anderen Zuordnung erscheint der Begriff Autismus meist gar nicht erst
in der Geriatrie.
Gelungene
Kompensationsstrategien, sowie günstig veränderte Lebensbedingungen
und nicht mehr relevante Symptome können das Bild entstehen lassen,
daß Autismus im frühen oder späteren Erwachsenenalter in einem
gewissen Maß nicht nur reduziert, sondern auch überwunden werden
kann.
Ich-Sein
Nicht mehr anders sein,
um nicht anders zu sein.
Nicht mehr anders sein,
um gleich zu sein.
Gleich zu sein, wie jene,
die anders sind.
Anders als ich.
Ich bin nicht gleich.
Ich entspreche nicht dem
Sein der anderen.
Weil ich anders bin.
Ein Anders-Ich.
Nicht wie die anderen.
Anders.
Ich-Sein.
Endlich anders sein.
Sein, wie ich immer war.
Nicht nur in mir.
Kein unsichtbares Ich
mehr
das sich anders zeigt als
es ist,
weil es anders ist
aber nicht anders sein
darf.
Ich will sein.
Nur ich sein.
Sabine
Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:Akzeptieren kommt aus dem
Lateinischen (accipere) und bedeutet „annehmen“.
In Bezug auf den Menschen
heißt das dem Ursprung des Wortes nach, ihn so anzunehmen, wie er
ist. Mit seinen Stärken und Schwächen. Leider habe ich selber die
Erfahrungen machen müssen, dass Anderssein häufig nur unter
bestimmten Voraussetzungen akzeptiert wird. Eine dieser
Voraussetzungen ist die soziale Anpassung.
Doch Akzeptanz, die
Bedingungen stellt, entbehrt jeglicher Grundlage.
Wenn ich nur akzeptiert
werde, in dem ich mich einer Gemeinschaft anpasse, zeigt mir das ganz
deutlich, dass ich, so wie ich bin, nicht akzeptiert werde.
Warum aber muss ich so
sein wie alle anderen innerhalb einer Gemeinschaft, um akzeptiert und
nicht zur Außenseiterin zu werden?
Anpassung bedeutet auch
immer Einschränkung von Individualität. Im Extremfall kann sie
sogar zum Verlust der eigenen Identität führen, da sie gleichzeitig
Zurücknahme und permanente Unterdrückung eigener Verhaltensweisen,
Vorstellungen und Wünsche ist.
Meine Vergangenheit war
geprägt von Anpassung. Ich musste und ich wollte so sein wie die
anderen, um nicht aufzufallen und um dazuzugehören. Aber je älter
ich wurde, desto schwerer fiel es mir, dem enormen Anpassungsdruck
standhalten zu können. Ich drohte daran zu zerbrechen und suchte mir
Hilfe in Form einer Therapie, zu deren Beginn eine Autismusdiagnostik
durchgeführt wurde.
Durch die Diagnose
Asperger-Syndrom bekommt mein Anderssein einen Namen und wird
begreifbar. Sie hilft mir, mich und mein Anderssein endlich annehmen
zu können.
Gleichzeitig ist sie aber
auch Anlass, mich mit meiner permanenten Anpassung in der
Vergangenheit und ihren Folgen intensiv auseinanderzusetzen und mir
die Frage zu stellen, welchen Weg ich heute gehen möchte. Ich stehe
erst ganz am Anfang und spüre doch, wie sehr ich mich bereits
verändert habe. Mein soziales Umfeld reagiert darauf zunehmend
irritiert, weil ich nicht mehr der Mensch bin, den sie zu kennen
glaubten. Plötzlich fällt mein Verhalten auf.
Dabei bin das endlich
ich, eine Asperger-Autistin, die gerade begonnen hat, sich selber
kennenzulernen und ihr Anderssein nicht mehr in Frage zu stellen. Ich
möchte nicht, dass mein Alltag weiterhin bestimmt wird von
permanenter Anpassung, die lediglich den Zweck erfüllt, nicht
aufzufallen und innerhalb des sozialen Umfeldes zu funktionieren.
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Rita Hallbauer
Mettjeweg 9
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